Weihnachten im Setterland
DIE WEGKREUZUNG - eine Weihnachtsgeschichte (2020)
Es ist Heiligabend im spanischen Bergland. Die Dächer der Steinhäuser schlafen unter der weißen Schneedecke, durch die Fenster schimmert glitzerndes warmes Licht und von den Fensterbänken lacht jede Menge Weihnachtsdekoration in die Nacht. Weihnachten ist das Fest der Liebe, des Friedens und des Glücks. Alles Dinge, die die drei Setter Mali, Paolo und Gogo nur vom Hörensagen kennen.
Langsam trotten sie durch die dunklen Straßen an den bunt geschmückten Häusern vorbei. Ihre Pfoten sind rissig und schwer vom langen Gehen, die Kälte kriecht durch ihr Fell und schon seit einigen Tagen haben sie kaum Futter gefunden. Sie sind drei von so vielen Hunden, die jedes Jahr zur Weihnachtszeit ausgesetzt werden.
Am Ende des Dorfes erreichen sie eine Wegkreuzung, wo sie auf einen großen, hölzernen Wegweiser treffen. Auf seinem Kopf trägt er ein Vogelhäuschen, an seinen Armen baumeln kleine Futterknödel und der Mond wirft ihm mit seinem Licht einen silbrig schimmernden Mantel um, so dass er fast aussieht wie ein König. Er streckt seine hölzernen Arme in zwei Richtungen aus. Auf einem Arm, der in die Richtung weist, aus der Mali, Paolo und Gogo kommen, steht KUMMERLAND 10km und auf dem anderen steht SETTERLAND 2km.
In Richtung SETTERLAND ertönt entfernt fröhliches Hundegebell und ein leises Glockenspiel erinnert an „Feliz navidad“. Um den Wegweiser herum stehen die allerschönsten Winterblumen. Hinter ihm schlängelt sich ein kleiner Bachlauf gen Westen den Berg hinab in ein weiteres Dorf, wo liebevoll zwitschernde Vögel sitzen und sich mit dem Mond und den leuchtenden Sternen unterhalten.
Der Mond und die Sterne waren auch für Mali, Paolo und Gogo wichtige Freunde, mit denen sie sich oft nachts unterhalten haben, während sie in ihrem Kerker draußen auf dem Hof kauerten und nicht schlafen konnten.
Die drei Setter spitzen die Ohren und bleiben staunend stehen. Die Vögel erblicken die drei Streuner, flattern aufgeregt auf sie zu und setzen sich auf den Wegweiser.
„Was um Himmelswillen macht ihr Vögel hier? Es ist Heiligabend, habt ihr kein Nest, wo ihr feiert?“ fragt Mali verdutzt. „Wir sind heute hier, um euch den richtigen Weg zu zeigen, denn im SETTERLAND wird heute Weihnaachten gefeiert, tschiep tschiep“, trällerten die Vögel fröhlich in die sechs großen Setterohren.
„SETTERLAND? Was ist das für ein Ort?“ fragt Paolo. „Oh, tschiep tschiep, das SETTERLAND ist ein Ort des Friedens, der Liebe und des Glücks. Hier leben schon viele gerettete Setter, die – wie ihr – ausgesetzt wurden. Alle haben dort eine eigene Familie, ein eigenes Körbchen, dürfen auf dem Sofa bei den Menschen liegen und haben immer einen vollen Napf. Außerdem gehen die Menschen dort mit ihnen jeden Tag spazieren“, trällert ein Vogel. „Und JESTER, der Schutzpratron vom SETTERLAND, hat dort unten im Dorf seine Zentrale und feiert mit allen ausgesetzten Hunden heute Weihnachten. Geht nur den Weg hinab, die Sterne am Himmel weisen euch den Weg. Klopft an die Holztür der großen Scheune mit der Aufschrift „JESTER“. Dort seid ihr willkommen, bekommt Futter und Wasser und JESTER wird euch all die schönen Geschichten aus dem SETTERLAND erzählen.“
Mali, Paolo und Gogo zögern keine Sekunde, verabschieden sich mit aufgeregtem Gebell und laufen den Weg hinab ins Dorf bis zur Scheune. Und da hängt das Schild: „JESTER“.
Plötzlich fliegen tausend winzige Glitzersternchen zu dem Schild und formen sich zu einer Krone. Mali ist sich sicher, die Sterne hat der Himmel geschickt. Es sind die vielen kleinen Wünsche für eine bessere Zukunft, die Mali, Paolo und Gogo nachts zum Himmel geschickt haben.
JESTER öffnet die Tür und sagt zu den Dreien: “Frohe Weihnachten, ihr lieben Setter. Ihr seid nun im Land der Liebe, des Friedens und des Glücks! Kommt herein und setzt euch zu uns.“ Mali, Paolo und Gogo laufen vor Freude die Tränen über die Schnauze und eines ist für die Drei klar: das ist das schönste Weihnachten in ihrem bisherigen Leben.
Weihnachtszeit im Baskenland (2021)
Während es an der Küste nie weniger als 10° hat, kann es in den Bergen durchaus mal zu Schneefall kommen. In diesem Jahr fielen und fielen weiche, samtige Schneeflocken. Es wollte gar nicht mehr aufhören und alles war wie in weiße Watte eingepackt. Alles wirkte so friedlich.
Doch Noelle, die kleine bis auf die Knochen abgemagerte Orange Belton Hündin mit ihren großen dunklen Augen, umrahmt von weißen Wimpern und wunderschönen langen Ohren, saß traurig und einsam in ihrem Zwinger und fror wieder einmal erbärmlich. Der Magen knurrte vor Hunger und man hatte schon seit zwei Tagen nicht mehr nach ihr gesehen. Man hatte sie einfach vergessen – wie so oft, wenn man sie gerade zum Jagen nicht gebrauchen konnte. Und gerade jetzt waren alle mit den Weihnachtsvorbereitungen beschäftigt. Sie konnte nur hoffen, wenigstens heute Abend etwas zu Futtern zu bekommen. Ihre Mahlzeit kam ein paar Stunden später – spärlichst.
Aber das war für Noelle heute gar nicht so wichtig. Denn in der Eile hatte ihr Herr und Gebieter nicht mehr kontrolliert, ob das Zwingerschloss auch richtig eingerastet war. Sie wartete noch eine Weile, bis im Haus die Lichter ausgingen. Dann warf sie sich mit aller Kraft gegen die Zwingertür. Beim zweiten Mal schon sprang sie auf. Der fallende Schnee dämpfte alle Geräusche und niemand bekam mit, wie sich Noelle auf leisen Pfötchen aus dem Anwesen entfernte. Die Abdrücke ihrer Flucht würde am nächsten Morgen keiner mehr unter dem Neuschnee finden können….
Noelles Müdigkeit, Hunger und Traurigkeit waren wie verflogen. Vitalisiert von dem Gedanken, aus ihrem Verließ endlich entkommen zu sein, sprang sie durch den Schnee. Einfach nur weg von hier. Egal wohin. Nach ein paar Stunden gönnte sie sich ein wenig Schlaf, geborgen unter einem Baum, der seine schützenden Äste über sie hielt. In der Zwischenzeit hatte es aufgehört zu schneien und der Mond schien auf die glitzernde Schneedecke mit all ihren Eiskristallen.
Nach ein paar Stunden wachte Noelle auf. Jemand hatte sie mit einer kuschelig warmen Decke zugedeckt und ein Leckerli in Engelsform vor ihr Schnäuzchen gelegt. An einem der unteren Äste mit einer Goldschleife festgebunden, baumelte über ihr unübersehbar eine Papierrolle. Nanu? Die hing doch vorhin noch nicht da! Aufgeregt und voller Ungeduld packte Noelle die hübsch verpackte Rolle aus und konnte ihren Augen kaum trauen, was sie da las.
SETTERLAND im Weihnachtsfieber. An alle notbedürftigen Setter ergeht hiermit eine Einladung zum Weihnachtsschmaus an Heiligabend bei JESTER! Auf beiliegender Skizze findet ihr den Weg zu JESTERS Hütte.‘
Noelle packte ihre Decke und die Einladung mit der Wegskizze unter die Pfote und mobilisierte ihre letzten Kraftreserven – ein wenig aufgefüllt von dem soeben verspeisten nach mehr schmeckendem Leckerli – und machte sich umgehend auf den Weg. Bis heute Abend hatte sie noch Zeit. Aber sie konnte es gar nicht erwarten, dort einzutreffen.
Es dauerte nicht lang und sie traf auf Nevio, einen bildschönen aber am Hinterlauf verletzten Blue Belton Setter. Aufgeregt begrüßten sie sich und stellten fest, dass sie die gleiche Decke mit der Einladung unter den Pfoten trugen. Nun ging es etwas langsamer voran, denn Nevio humpelte stark aufgrund seiner Verletzung. Keine weitere halbe Stunde später gesellte sich Stella, eine zierliche Irish Setter Hündin dazu. Sie war so verprügelt worden, dass sie sich nur zaghaft aus ihrer Deckung wagte. Immer mehr Setter schlossen sich an Weggabelungen auf ihrem Weg ins Tal der kleinen Gruppe an, je näher sie ihrem Ziel rückten.
Es war eine illustre Truppe, die schließlich mit freudigem Jaulen und Winseln auf der Zielgeraden auf JESTERS Hütte zusteuerte – gespannt, was sie erwarten würde. Jegliche Couleur und Zeichnung der Setter Familie war vorhanden. Einige humpelten, eine war blind, der andere taub. Der Nächste hatte eine eiternde Wunde an der Flanke. Manch einer führte einen ganzen Flohzirkus mit sich spazieren. Gut genährt waren sie alle nicht.
Und eines hatten sie alle gemeinsam: sie hüteten aufgeregt und ungläubig ihre Einladung mit der Wegskizze wie ein vergoldetes Kleinod und trugen ihre vorgefundene Decke unter den Pfoten.
Schon aus der Ferne konnten sie das Weihnachtslied ‚Feliz Navidad‘ hören.
Da endlich war sie – in sternenklarer Nacht. JESTERS Hütte, größer als sie erwartet hatten. Eine Sternschnuppe fiel just in dem Moment vom Firmament. Sie konnten sich gar nicht sattriechen an dem leckeren Geruch, der aus der sperrangelweit geöffneten Tür strömte. Aus dem Kamin stieg Rauch auf. Das bedeutete, es würde heimelig warm dort sein. Vor der Tür stand ein mit Lichtern, bunt glitzernden Kugeln und wiederum zusammengebundenen Papierrollen geschmückter Weihnachtsbaum. Daneben parkte ein Schlitten vollbeladen mit Päckchen, soweit ihre Augen reichten. Und mitten in der Hütte vor einem gemütlichen Kaminfeuer stand JESTER, bereit sie alle in seine schützenden Arme zu nehmen.
‚Herzlich Willkommen, liebe Settergemeinde und Frohe Weihnachten! Jetzt wo ihr alle da seid, kann ich ja den Gänsebraten für euch anrichten und anschließend darf sich jeder sein zweites Papierröllchen vom Baum nehmen. Es ist euer Setterlandticket in das Reich eurer Weihnachtsträume. Nie mehr Qualen und Hunger leiden müsst ihr, das verspreche ich Euch an diesem heiligen Abend.‘
Nachdem sie sich alle ihre Mägen vollgeschlagen hatten mit einem leckeren Gänsebraten, Preiselbeeren und Wildkräutern gab es als Nachtisch für jeden ein großes Rinderohr mit einem Löffel Honig. Danach wurden die ausgepackten Geschenke, neue weiche Halsbänder, Leinen und lustige ihnen völlig unbekannte Spielzeuge bestaunt. Jeder bekam noch eine innige Streicheleinheit von JESTER und die schlimmsten Wehwehchen wurden schon einmal versorgt.
Bald jedoch schlummerte Noelle völlig erschöpft von den überwältigenden Ereignissen des Tages eingebettet zwischen Nevio und Stella und all den anderen satt und zufrieden mit einem prall gefüllten Bäuchlein. Sie alle träumten von kuscheligen Körbchen, liebkosenden, warmen, fürsorgliche Händen und ansprechend duftenden Fressnäpfen.
Was für ein Weihnachtsabend! Ein Abend, an dem ihrer aller Leben eine unerwartete Wendung ins gelobte SETTERLAND nahm…